Vom Wissenschaftler zum Vertriebler - für mich eine der wichtigsten Erfahrungen

Vom Wissenschaftler zum Vertriebler - für mich eine der wichtigsten Erfahrungen

Es gibt keinen Zweifel - es hätte alles besser laufen können. Mein Mitgründer Florian und ich stehen in einem leeren Büro, die Arbeitsplätze sind leer und das einzige, was uns geblieben ist, sind zwei Telefone. Es ist irgendwann im Herbst 2014 und gestern haben wir 7 von 9 Mitarbeitern kündigen müssen. Die letzten zwei Mitarbeiter sind wir selbst und wir zahlen uns kein Gehalt mehr. Ehrlich gesagt könnten wir uns auch kein Gehalt mehr zahlen, denn wir sind kurz vor der Pleite. Es ist nicht fünf vor zwölf, sondern eher ein paar Sekunden vor dem Punkt, an dem wir den Stecker ziehen und Insolvenz anmelden sollten.

Was ist passiert? 

Eine Anschlussfinanzierung ist einen Tag vor dem Notartermin geplatzt, unsere Investoren sehen keine Traktion im Markt und wollen nicht weiter in die Produktentwicklung investieren, ohne dass klare Signale von der Kundenseite kommen. Wir sind sauer, verzweifelt und suchen die Schuld bei unseren Investoren, die - aus unserer Sicht offensichtlich! - unsere Vision nicht verstehen und uns hängen lassen. Es hat Streit im Team gegeben, unser dritter Mitgründer ist ausgeschieden und wir müssen uns eingestehen, dass wir trotz durchgearbeiteter Nächte, gewonnener Businessplan-Wettbewerbe und gutem Feedback von Beta-Nutzern unserer Software vor einem Scherbenhaufen stehen.

Nachdem wir einige Zeit in diesem gähnend leeren Büro standen, dämmerte uns dann doch irgendwann, dass unsere Investoren in einem Punkt recht haben könnten: Ein Produkt bringt erst dann nachweislich Mehrwert, wenn Leute bereit sind, dafür zu bezahlen. Uns wurde klar, dass wir uns allein auf unsere Produktentwicklung verlassen haben. Wir glaubten daran, dass sich ein gutes Produkt von selbst verkauft. Aber mit Aussagen wie “Wir müssen nur noch dieses Feature entwickeln, dann verkauft sich Labfolder wie geschnitten Brot” oder “Das ist das Killer-Feature, danach haben wir Product-Market-Fit” haben wir uns eigentlich nur selbst belogen. Die Anziehungskraft von F&E hatte uns voll in ihren Bann gezogen. 

Was uns eigentlich fehlte, war ganz einfach Vertrieb. Wir waren kundennah, hatten unsere Software mit Feedback von Beta-Testern entwickelt Aber was wir nicht strukturiert und kontinuierlich eingeholt hatten, war das Feedback zur tatsächlichen Zahlungsbereitschaft.  Wir hatten nicht den Zug zum Tor, um unsere initialen Kundenkontakte in erste Umsätze zu verwandeln. Lieber diskutierten wir stundenlang mit Nutzern über Verbesserungsmöglichkeiten und neue Features, als hartnäckig an dem Ziel zu arbeiten, den bereits existierenden Mehrwert darzustellen und eine Rechnung stellen zu können.

Aber woher sollten wir das auch wissen? In unserer naturwissenschaftlichen Ausbildung war uns das Verkaufen nicht beigebracht worden. Im Gegenteil: Vertrieb ist etwas, was im akademischen Elfenbeinturm als etwas unfeines betrachtet wird. Vertriebler werden als schmierige Staubsaugerverkäufer gesehen. Für Wissenschaftler sind Verkäufer unangenehme Kerle mit unlauteren Absichten. Als Doktorand in den Life-Sciences will man auf gar keinen Fall als Pharma-Vertreter enden. Es ist ein absolutes Karriere-NoGo und rangiert als Notlösung maximal eine halbe Stufe höher als Taxifahrer. Und so haben wir gedacht, dass wir ohne Vertrieb klar kommen.

Bis wir erleben mussten, dass man ohne Vertrieb nichts verkauft, ohne Verkäufe kein frisches Geld reinkommt und ohne frisches Geld keine Leute bezahlt werden können. 

Was haben wir gelernt?

Gott-sei-Dank haben wir damals nicht aufgegeben. Wir haben weiterhin an unsere Vision geglaubt und uns entschlossen, weiterzumachen. Und Gott-sei-Dank haben wir die richtigen Schlüsse aus unserem Misserfolg gezogen und in Vertrieb investiert. Ein positiver Effekt unserer desolaten Lage war, dass uns eigentlich gar nichts anderes übrig blieb? Das Büro war leer und es gab keine Software-Entwickler mehr, die neue Features hätten entwickeln können. Es gab nur noch zwei Telefone und zwei verbleibende Gründer. Wir mussten also das verkaufen, was da war. Wir hatten gar nicht mehr die Möglichkeit, auf ein Killer-Feature zu warten. Also investierten wir unser letztes Geld in ein Vertriebs-Coaching und legten los.

Wir machten Cold-calls - Tag für Tag, oft von früh bis spät. Anrufen, versuchen, an der Sekretärin vorbeizukommen, pitchen, nachfassen, hoffen. CRM updaten, Vertriebs-Scripts verbessern, neue Leads sourcen, vorqualifizieren und wieder ran an die Telefone.

Und interessanterweise fing diese “unfeine” Vertriebsarbeit an, Spaß zu machen. Im Nachhinein würde ich sogar sagen, dass es eine der schönsten Zeiten bei Labforward war. Es war eine Überwindung, sich zum Vertrieb “herabzulassen”, aber es war eine Überraschung, wie vielfältig, lehrreich und erfüllend sich die Arbeit gestaltet hat. Nicht nur konnten wir recht schnell die ersten kleineren Rechnungen verschicken und hatten auf einmal wieder etwas Geld auf dem Konto. Wir lernten auch mehr über unser Produkt und die wirklichen Killer-Features, als wir es im Austausch mit einigen wenigen Early-Adopters lernten. Natürlich haben wir viele Absagen kassiert. Aber nach und nach kamen wir durch das Vertriebs-Coaching immer öfter über den Punkt hinaus, an dem uns Leute einfach nur “Kein Interesse” sagten und auflegten. Immer öfter hatten wir gute und lange Gespräche mit potentiellen Kunden, die uns trotz Absage ihre Schwierigkeiten mitteilten, Ideen für Lösungen lieferten und sogar weitere potentielle Kundenkontakte lieferten - obwohl unser Produkt für sie selber nicht passte! 

Wir lernten neue Leute kennen und knüpften Kontakte, die sich Jahre später als wertvolle Partner herausstellten. Vor allem lernten wir, dass viele der geplanten Features, die wir als große Hoffnungsträger präsentiert hatten, auf recht wenig Interesse am Markt stießen. Nur durch intensiven Vertrieb erfuhren wir, was wirklich wertvoll für die große Masse unserer Zielkunden war. Wir lernten auch, unsere Zielkunden besser zu segmentieren und lernten, für welche Art für Kunden unser Produkt am besten passt. Und wir lernten, wie gute Kommunikation funktioniert. Wir lernten, zuzuhören, anstatt zu sprechen und geschickte Fragen zu stellen, statt Antworten abzuspulen. Wir lernten auch Tricks anzuwenden, um potentielle Kunden zu einer Entscheidung zu bewegen - oder uns beiden Zeit mit einer schnellen Absage zu sparen. 

Wir feierten den Film “Wolf of Wall Street” (2013) und waren kurz davor, einen Protest zu starten, als Leonardo DiCaprio für seine Verkörperung von Jordan Belfort keinen Oscar erhielt. Wir feierten uns gegenseitig, wenn einer von uns ein gutes Gespräch hatte, dass der andere aktiv mitgehört hatte. Oft gab es lustige Situationen, in denen einer von uns vom Kunden entweder einen krassen Korb bekam oder einen kreativen Sales-Pitch hinlegte. Wir kritisierten uns gegenseitig, verbesserten unsere Strategie und unsere Kommunikation und konnten nach und nach auch am Produkt zielgerichtete Verbesserungen vornehmen. Der Markt gab uns und unserer Vision in immer größeren Schritten Recht: Zunächst mit Zahlungseingängen von ein paar Hundert Euros, bis zu Zahlungseingängen von Hunderttausenden von Euros.

Vor allem brachte uns einer unserer ersten Kunden einen neuen Investor. Dieser eine Kunde war nicht nur von unserem Produkt, sondern auch von uns als Team und unserer Kommunikation begeistert, dass er Peppermint Venture Partners anschrieb. 

Mitte 2015 konnten wir dann mit PVP und auch den alten Investoren  eine Finanzierungsrunde i.H.v. rund 1,5 Mio. abschließen und die Firma wieder aufbauen.

Der Vertrieb hat uns seitdem nicht losgelassen. Als wir wieder Leute einstellen konnten, haben wir nicht nur Softwareentwickler eingestellt, sondern auch ehemalige Doktoranden. Wir konnten unsere Erfahrungen an Naturwissenschaftler weitergeben, die sich zu exzellenten Vertrieblern entwickelt haben. Und auch wenn sie später Führungsrollen im Marketing oder im Kunden-Support übernahmen: Der Vertrieb, die konsequente und disziplinierte Arbeit mit Neukunden hat alle positiv und nachhaltig geprägt. Florian und ich haben noch lange Zeit 20-30% unserer Zeit mit Cold-Calls verbracht - einfach um weiterhin nahe am Kunden zu sein, ein Gespür für den Markt und für Trends zu behalten und auch, um unseren Vertrieb von der Frontlinie aus beurteilen zu können. 

Wenn ihr mich fragt…

Insgesamt bin ich heute der Meinung, dass gerade Gründer mit naturwissenschaftlichem oder technischem Hintergrund intensiv und lange selbst Vertrieb machen sollten - nicht nur hilft es ihnen, Kunden und Markt besser zu verstehen. Sie sind auch die besten, um Produkte oder Dienstleistungen am glaubhaftesten zu verkaufen. Fragt Euch einmal selber: Von wem würdet ihr ein komplexes Produkt am ehesten kaufen? Von einem Ingenieur oder einem gelernten Vertriebler? 

Gründer mit einem F&E-Hintergrund machen meines Erachtens zu früh den Fehler, die Vertriebsarbeit abgeben zu wollen. Dann werden oft Hoffnungen auf seniore Profile mit viel Vertriebs- und Industrieerfahrung gesetzt - die aber genauso oft die Vision, die Kunden und das Produkt nicht so schnell und tief verstehen, um mit all ihrer Erfahrung wirklich in die Wirkung zu kommen.

Auch dieser Trieb, die Vertriebsarbeit abgeben zu wollen, resultiert bei F&E-Gründern aus ihrer akademischen Prägung, in der Vertriebsarbeit als etwas Minderwertiges kodiert wurde, was nur widerwillig ausprobiert und schnell wieder abgegeben werden sollte.

Meiner Ansicht nach sollte sich das ändern. Natürlich sollte nicht jeder Physiker oder Biologe Vertriebs-Vorlesungen besuchen müssen, zumal auch im BWL-Studium meines Wissens nach keine praxisnahe Vertriebsausbildung stattfindet. Aber ein Grundverständnis dafür, was Marketing & Vertrieb ist und dass später eine gute Zusammenarbeit zwischen Marktseite und F&E unerlässlich ist, um auf der einen Seite bessere Produkte zu entwickeln und sie auf der anderen Seite besser zu verkaufen, sollte auch in den Elfenbeinturm der Wissenschaftler und Techniker stattfinden. 

Vor allem sollte dem Vertrieb der Makel des Minderwertigen genommen werden.

Wem das noch nicht reicht…

Unser Vertriebs-Coach Emanuel erzählte uns schon damals, dass er eigentlich kein Vertriebs-Coaching macht, sondern Kommunikations-Coaching. Viele Interaktionen mit Kunden verglich er mit Vorgängen beim … Trommelwirbel … Dating! Wie beim Vertrieb lernen sich beim Dating fremde Leute kennen, Vertrauen wird aufgebaut (oder auch nicht) und es gibt Körbe und “Vertriebserfolge”. Florian und ich fanden den Vergleich immer sehr anschaulich und spaßig. Und selbst wenn Dating in unserer desolaten Unternehmens-Situation wirklich nicht relevant war, haben wir durch das Vertriebscoaching und die Vertriebsarbeit gelernt, Kommunikation auch in anderen Bereichen strukturiert und effektiv einzusetzen: Bei Investorengesprächen, dem Aufbauen von Geschäftspartnerschaften oder in der Kommunikation mit Mitarbeitern.

Heute ist Emanuel Albert, unser Vertriebs-Coach von damals, der Dating-Doc - ein erfolgreicher Dating-Coach mit eigener Fernseh-Sendung.

Dass Naturwissenschaftler und Ingenieure in der Mehrheit nicht unbedingt die besten Dating-Experten sind, gehört glaube ich zum gesellschaftlichen Konsens. Gleichzeitig bin ich mir sicher, dass die meisten Naturwissenschaftler, Ingenieure und andere “Nerd-Stereotypen” im Geheimen ganz gerne besser in dieser Disziplin wären.

Also, wenn ich von Euch, liebe F&E-Gründer, noch nicht überzeugt habe, dass sich die Investition in Vertrieb geschäftlich lohnt: Überlegt Euch, was diese Investition im privaten Bereich bringen kann!


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