Warum Wissenschaftler eine unternehmerische Karriere in Betracht ziehen sollten

Warum Wissenschaftler eine unternehmerische Karriere in Betracht ziehen sollten
Akademische Karriere oder Unternehmer-Karriere?

2010 habe ich mich entschlossen, keine akademische Karriere anzustreben, sondern Unternehmer zu werden. Und ich hoffe, dass noch mehr Wissenschaftler, Doktoranden und Post-Docs diesen Karriereweg zumindest ernsthaft in Betracht ziehen. Dieser Blog-Beitrag ist jedoch nicht als bloße Aufforderung zum Handeln für angehende Science-Gründer gedacht. Vielmehr soll er einige Ideen und Gedanken liefern, die helfen könnten, eine fundierte Entscheidung zu treffen.

Ein Schlüsselerlebnis für meine Entscheidung war zu beobachten, wie PIs (Principal Investigators) ihre Zeit verbracht haben. Prof. Nils Brose, mein Doktorvater, ist einer der cleversten Menschen, die ich in meinem Leben getroffen habe. Neben seinen intellektuellen Fähigkeiten hat ihn als guter Forscher aber auch ausgezeichnet, dass er extrem gut im Kollaborieren und Verbreiten seiner Forschungsergebnisse war. Viele Konferenzbesuche, Vorträge und Partnerschaften mit befreundeten Forschern, sowie hin und wieder auch ein Artikel für eine Tageszeitung und andere Medien. 

Meine Erkenntnis als junger Doktorand war: Zeit im Labor und mit der eigentlichen Forschung verbringen PIs eigentlich gar nicht mehr, dafür umso mehr Zeit in Meetings, auf Reisen, am Schreibtisch und vor allem damit. über ihre Forschung zu sprechen. Auch wenn es im akademischen Jargon oft mit “Dissemination of research” umschrieben wird - auf “Business” übersetzt ist das “Marketing und Vertrieb” und es hat einen enormen Stellenwert im Forscherleben. Und wie überall anders im Leben zählt die “menschliche Komponente”, die Fähigkeit zu Netzwerken und zu kommunizieren, mindestens genauso viel wie gute Forschung: Tue Gutes… und sprich darüber!

Eine instinktiv getroffene Entscheidung

Mit dieser Erkenntnis keimte auch der Gedanke auf, dass sich ein Leben als Unternehmer im operativen Alltag nicht so viel von der Tätigkeit als PI unterscheidet. Jedem noch so unerfahrenen Gründer ist klar, dass Marketing und Vertrieb ein essentieller Bestandteil des Gründeralltags sind - über seine Idee, seine Produkte, seine Vision und das Unternehmen zu sprechen, ist essentiell!

Es gab selbstverständlich viele Faktoren, die für mich zur Entscheidung geführt haben, der akademischen Karriere den Rücken zu kehren - viele inhaltliche Punkte, die mich an der akademischen Forschung gestört haben - unter anderem Themen wie das Reproducibility Problem (1), die Bürokratie und einiges mehr. Nicht zu verschweigen: Die geringen finanziellen Entwicklungsmöglichkeiten und die selbstkritische Erkenntnis, dass meine wissenschaftlichen Fähigkeiten nie an diese von Nils und anderen hochkarätigen Forschern im Göttinger Max-Planck-Umfeld hereingereicht hätten. 

Die Überlegung war also: Wenn mein Alltag ähnlich aussieht, ich mit meinen zwischenmenschlichen Fähigkeiten und möglicherweise mangelnden akademischen Fähigkeiten woanders besser aufgehoben bin und es zudem finanziell attraktiver ist, kann ich doch gleich den Unternehmer-Pfad einschlagen.

Da ich abgesehen von Flohmarkt-Verkäufen und einigen unternehmerischen Eskapaden als Student ja nicht wissen konnte, was einen im Unternehmerleben so erwartet, habe ich die Entscheidung dann eher instinktiv als rational getroffen.

Eines kann ich vorweg sagen: Ich bereue sie nicht.

Die Entscheidung rational betrachtet

Instinktive Entscheidungen zu verabscheuen gehört allerdings fast zum Berufsethos von Wissenschaftlern. Im Nachhinein hier also die rationale Nacharbeit und ein paar Zahlen für all diejenigen, die vielleicht vor einer ähnlichen Entscheidung stehen.

Ich habe einmal recherchiert, womit sich Principal Investigators (PIs) im Alltag die Zeit vertreiben und wie sich das meiner Erfahrung nach mit dem Alltag als Unternehmer verhält.

Womit verbringen Principal Investigators (PIs) ihre Zeit?

Konferenzen: Der Marketing-Kanal für Wissenschaft schlechthin. In der Literatur heißt es „Konferenzen sind wichtige Aktivitäten zur Vernetzung, Zusammenarbeit und Verbreitung von Forschungsergebnissen“ (2). Auf unternehmerisch übersetzt: Das ist Marketing, Sales und Business Development. PIs reisen zu Konferenzen, um ihre Forschung zu präsentieren und zu netzwerken, ähnlich wie CEOs auf Messen ihre Produkte und Visionen vorstellen. Zeitaufwand: Vorbereitung der Inhalte (Vortrag, Poster etc.): 5–40 Stunden Logistische Vorbereitung (Reiseplanung, Buchungen etc.): 2–10 Stunden, Teilnahme an der Konferenz: 24–50 Stunden, Networking und Meetings: 5–10 Stunden, Nachbereitung: 5–10 Stunden. Insgesamt ca. 40–100+ Stunden, abhängig von der Art der Teilnahme und dem Vorbereitungsaufwand. Im Durchschnitt also 70h pro Konferenz. Bei 1 Konferenz pro Quartal sind das 280h pro Jahr pro PI oder 13% der Gesamtarbeitszeit.

Sonstige Forschungskommunikation: Plattformen wie ResearchGate, das LinkedIn der Wissenschaft, spielen eine zunehmend wichtige Rolle. Auch hier geht es um Marketing, für wissenschaftliche Projekte und darum, Netzwerke zu erweitern. Es gibt keine genauen Zahlen darüber, wie viel Zeit Forscher auf Plattformen wie z.B. ResearchGate verbringen. Ihre Rolle bei der Verbesserung der wissenschaftlichen Kommunikation und der Erweiterung kollaborativer Netzwerke ist jedoch bedeutend (3). ResearchGate wird zum Beispiel von über 20 Millionen Nutzern verwendet, um wissenschaftliche Produkte zu teilen und zu diskutieren (4). Bei einem konservativen Ansatz von 1 Stunde pro Woche und PI macht die in wissenschaftlichen sozialen Netzwerken und anderen Plattformen verbrachte Zeit ca. 50 h pro Jahr pro PI aus.

Das Lesen von Papers: Übertragen gesprochen die kontinuierliche Marktrecherche und -analyse. Auch hier gibt es keine genauen Zahlen oder Analysen. Ein Assistant Professor gibt auf Reddit an, etwa 30-50 Abstracts und 5-15 davon pro Woche davon vollständig zu lesen (5). Ich denke, mit 5 min pro Abstract und mindestens 30 min pro Paper sollte man rechnen, also ca. 8h pro Woche oder 416 h pro Jahr pro PI.

Insgesamt kommen also Marketing & Vertrieb sowie Marktrecherche und - analyse auf rund 746 h pro Jahr, oder rund 35% der Jahresarbeitszeit.

Einwerben von Fördermitteln: Wie sieht es mit der Einwerbung von Fördermitteln aus - auf unternehmerisch übersetzt - mit Fundraising? Die Ausarbeitung eines neuen Förderantrags kann im Durchschnitt 38 Arbeitstage in Anspruch nehmen, während für erneut eingereichte Anträge etwa 28 Tage benötigt werden, was einen durchschnittlichen Zeitaufwand von 34 Tagen pro Antrag ergibt (6) (entspricht 272h bei einem 8h Arbeitstag). Eine andere Studie, an der Astronomen und Psychologen beteiligt waren, ergab außerdem, dass die Erstellung eines Förderantrags für PIs etwa 116 Stunden in Anspruch nimmt (7). Man kann also annehmen, dass im Durchschnitt rund 190h pro Förderantrag aufgewendet werden.

Bei 3 Forschungsanträgen pro Jahr kommt man auf 570h pro Jahr pro PI oder 27% der Gesamtarbeitszeit und der Großteil der administrativen Arbeit (42% gesamt, siehe oben).

Wie sieht es mit anderen Tätigkeiten aus?

Interne Meetings: Zur genauen Zeit, die mit internen Meetings verbracht wird, gibt es unterschiedliche Zahlen und leider keine spezifischen für interne Meetings in der akademischen Forschung. Im Internet finden sich Werte von ca. 7,5% der Arbeitszeit beim einfachen Angestellten bis 50% im höheren Management (8). 22% der Arbeitszeit (oder rund 460h pro Jahr pro PI, wie in einer schwedischen Umfrage unter inter-professionellen Teams festgestellt (9), scheint ein guter Anhaltspunkt zu sein.

Zusammenfassung

Aktivität

Arbeitsstunden pro Jahr

%

“Verbreitung von Forschung”, Konferenzen, Netzwerken, Paper lesen:

746

36%

Forschungsanträge

570

27%

Interne Meetings

460

22%

Sonstiges → die eigentliche Forschung?

304

15%


2080

100%

Wie verhält sich das zur Zeiteinteilung eines Startup-Gründers?

Kurz: sehr ähnlich. Zumindest in der Phase, in der man ein Unternehmen aufbaut und unter der Annahme, dass man als eher extern-orientierter Geschäftsführer (CEO) unterwegs ist. Es gibt im Gründungsteam sicher Funktionen, die mehr technisch oder operativ orientiert sind. Einen hohen Marketing- & Sales Anteil haben aber alle!

Aktivität

%

Marketing & Vertrieb, BizDev, Marktrecherche & -analyse:

40%

Fundraising & investor relations

30%

Interne Meetings

20%

Sonstiges

20%

In späteren Jahren, je nach Wachstum des Unternehmens, ist man natürlich noch mehr mit Führungsaufgaben und Stakeholder-Management beschäftigt, aber für die ersten paar Jahre eines Unternehmens ist diese Aufteilung aus meiner Erfahrung heraus valide.

Chance & Risiko, rational betrachtet

Zum Schluss noch ein paar Worte zu Chance und Risiko: Instinktiv haben viele Akademiker Angst vor dem Scheitern als Unternehmer, dabei sollten sie rational betrachtet wahrscheinlich mehr Angst vor dem Scheitern auf einer akademischen Karriere haben: 

Nur ca. 15% aller Biologie-Doktoranden schaffen es, innerhalb von 6 Jahren eine unbefristete Stelle zu bekommen (10). Eine umfassende Studie über promovierte Ingenieure aus den Jahren 2006 bis 2021 ergab, dass die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, eine unbefristete Stelle an einer Fakultät zu erhalten, bei 12,4 % liegt (11).

Im Gegensatz dazu die unternehmerische Karriere: Rund 48% aller in den USA gegründeten Unternehmen überleben die ersten 6 Jahre (12). 

Dass ein Unternehmen überlebt, heißt natürlich noch lange nicht, dass es ihm auch gut geht. Aber eines ist klar: Die interdisziplinäre Lernkurve, die in den ersten 6 Jahren als Unternehmer erfolgt, ist mit Sicherheit steiler als die in einer akademischen Karriere. Gleichzeitig ist die finanzielle Gelegenheit größer.

Es besteht zwar das Risiko einer Insolvenz, aber Vorsicht: Damit ist das Scheitern des Unternehmens gemeint, nicht das persönliche Scheitern oder ein persönlicher, finanzieller Totalschaden. Vorausgesetzt man geht etwas vorsichtig vor, gibt es in den ersten 6 Jahren, ist das persönliche, finanzielle Risiko recht gering und lässt sich absichern (Stichwort D&O Versicherung).

Auf der anderen Seite: Nach 6 Jahren in der Akademia ohne Festanstellung sinken die Chancen dramatisch, eine Anstellung in der Industrie zu bekommen, gleichzeitig steigt der psychische Druck und das Gefühl, in der Akademia gefangen zu sein.

Spieltheoretisch betrachtet sind die finanzielle Chance und die interdisziplinäre Lernkurve in der unternehmerischen Laufbahn höher. Das finanzielle Risiko mag zwar etwas höher sein, allerdings liegen instinktive Wahrnehmung und reales Risiko weit auseinander.

Schlussendlich schließt die eine Karriere die andere nicht aus - Vorausgesetzt die Hierarchien lassen es zu, kann man auch parallel zur akademischen Karriere eine unternehmerische Karriere einschlagen und andersherum als Unternehmer immer noch mit der akademischen Welt verbunden sein, so wie ich es als Gründer von Labforward war.

Fazit

Ich bereue es nicht, den unternehmerischen Weg eingeschlagen zu haben.

Meine Hoffnung ist, dass mehr Wissenschaftler sich ebenfalls trauen, diesen Weg zu erkunden. Die Aufgaben im Alltag heißen zwar anders, sind aber ähnlich. Letztendlich geht es darum, Chancen und Risiken nüchtern zu betrachten und nicht nur die vermeintlich sicherere Option zu wählen.

An alle Doktoranden und Post-Docs, die vielleicht nur leise den Gedanken in sich tragen, ein Unternehmen zu gründen: Es lohnt sich, darüber nachzudenken, was ihr gewinnen könnt und welche Risiken ihr wirklich eingeht. Der unternehmerische Weg ist eine mehr als spannende Alternative – und eines ist sicher: Er bietet euch die Chance, eure Talente anders zu nutzen und vielleicht sogar größere Erfolge zu feiern.

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Referenzen

  1. Labforward - The Importance of Data Reproducibility. Labforward https://labforward.io/the-importance-of-data-reproducibility/.
  2. Hauss, K. What are the social and scientific benefits of participating at academic conferences? Insights from a survey among doctoral students and postdocs in Germany. Research Evaluation 30, 1–12 (2021).
  3. Corvello, V., Chimenti, M., Giglio, C. & Verteramo, S. An Investigation on the Use by Academic Researchers of Knowledge from Scientific Social Networking Sites. Preprint at https://doi.org/10.20944/preprints202010.0644.v1 (2020).
  4. Meijaard, E. & Moqanaki, E. High readership on academic social platforms could poorly reflect conservation interest. Oryx 57, 578–580 (2023).
  5. tadbafyb. How many papers do you read per week and what is your position in the lab? r/labrats  www.reddit.com/r/labrats/comments/7ebwjp/how_many_papers_do_you_read_per_week_and_what_is/ (2017).
  6. Herbert, D. L., Barnett, A. G., Clarke, P. & Graves, N. On the time spent preparing grant proposals: an observational study of Australian researchers. BMJ Open 3, e002800 (2013).
  7. Von Hippel, T. & Von Hippel, C. To Apply or Not to Apply: A Survey Analysis of Grant Writing Costs and Benefits. PLoS ONE 10, e0118494 (2015).
  8. Smith, D. Average Time in Meetings & Its Impact. https://www.flowtrace.co/collaboration-blog/average-time-in-meetings-its-impact (2024).
  9. Thylefors, I. Does time matter? Exploring the relationship between interdependent teamwork and time allocation in Swedish interprofessional teams. Journal of Interprofessional Care 26, 269–275 (2012).
  10. PabloAMC 🔸. Estimation of probabilities to get tenure track in academia: baseline and publications during the PhD. (2020).
  11. Roy, S., Velasco, B. & Edwards, M. A. Competition for engineering tenure-track faculty positions in the United States. PNAS Nexus 3, pgae169 (2024).
  12. Delfino, D. Percentage of Businesses That Fail. LendingTree https://www.lendingtree.com/business/small/failure-rate/ (2024).

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